Bitte lächeln

Freitag, 14ter September 1973, am späten Nachmittag. Von einem schulübergreifenden Sportwettkampf der Jahrgangsbesten nach Letter am westlichen Stadtrand Hannovers heimkehrend, bemerkt ein 14jähriges Mädchen einen offenbar angetrunkenen Mann verzweifelt auf den Bahngleisen sitzen. Obwohl aufgrund des sommerlichen Wetters in einer Gartenkolonie am Fuß des Bahndamms reges Treiben herrscht und unmöglich unbemerkt geblieben sein kann, dass der ca. 25jährige den Bahndamm erklommen hat, herrscht allgemeine Gleichgültigkeit: man will den Tag geniessen, ein, zwei Biere, Grillen, das Wochenende einläuten. Also kümmert sich das Mädchen, erklimmt den Bahndamm, ein Loch im Zaun, der die Gleise von der Welt trennt, von der sich der Verzweifelte verabschieden möchte. Sie geht zu ihm. Liebeskummer, Trost, eine jugendliche Hand hilft hoch, weist den Weg von den Gleisen hinunter: Operation gelungen, Patient lebt. Aber ein neuerlicher todessehnsüchtiger Selbstmitleidsschub überfällt ihn, er reisst sich los. Das grobe Schüttgut des Gleisbetts, der Alkohol und der verklärte Blick erschweren die Kontrolle über die eigenen Schritte, ein Schnellzug in Richtung Hannover naht und durchschneidet die sommerliche Stille, erfasst den jungen Mann am Kopf. Er verstirbt am Unfallort.
Der herbeigerufene Arzt erledigt den Papierkram, Polizei und Bahnbedienstete kennen das Prozedere. Das Mädchen darf irgendwann nach Hause gehen.
Später am Abend erscheint die Bahnpolizei bei der Familie der 14jährigen, eine Zeugin, ein Protokoll, ein Erinnerungsfoto. Sie ist eben auch sehr hübsch. Zeugin, Mutter, Bahnpolizist, Hund. Polaroid-Trennbildverfahren, jedes Foto ein Unikat. Drei lächeln, der Hund schnüffelt. Ein Mann in bester Feierabend-Urlaubslaune an einem warmen Sommerabend, dünnes, weisses Kurzarmhemd, offizielle Polizeimütze, die Hände lässig in den Hosentaschen. Die Mutter im ebenfalls kurzärmligen, gemusterten Kleid, die Arme verschränkt. Das Mädchen ganz links auf dem Bild: Für die Jahreszeit zu warm bekleidet, trotzdem im warmen Mantel frierend, die Hände in den Ärmeln versteckt, lächelnd und schutzlos schön. Der Hund läuft ins Bild. Der Fotograf: unbekannt.

Später irgendwann bekommt der Hund das Bild zu fassen, zerknuckelt es und beisst ein paar Löcher hinein, durch die heute das Sonnenlicht scheint. Der Schein trügt.



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