Den Augen trauen
Könnt ihr euch noch an Zeiten erinnern, zu denen ihr die Telefonnummern eurer Freunde, engsten Bekannten und wichtigsten beruflichen Ansprechpartner ganz selbstverständlich im Kopf hattet? An Zeiten, als Kurzwahltasten und elektronische Rufnummernspeicher krude Ideen waren, mit denen Autoren ihre belletristischen Handlungen in eine ferne Zukunft versetzten? Wisst ihr noch, wie damals – als das Gehirn im Allgemeinen ein gut trainierter Muskel war, der mit Verstand eingesetzt wurde – fotografiert wurde?
Wie ist es möglich, mit Einwegkameras, an denen es keinerlei Verstellmöglichkeit gibt, einen ganzen Film einigermassen brauchbar zu belichten? Die Informationsdichte eines ganz gewöhnlichen KB-Farbfilms entspricht ungefähr 20 Megapixeln, feinkörnigere Ware erreicht auch doppelte Werte. Die Abbildungsleistung übertrifft in puncto Informationsdichte und Nuancierung der Tonwerte fast alles, was Digitalfotos zu leisten imstande sind. Selbst die billigsten Materialien sind relativ tolerant, sie verzeihen zu lange oder kurze Belichtungszeiten, zu weit geöffnete und geschlossene Objektivblenden.
Wenn ich Plädoyers für die Analogfotografie lese, beziehen sie sich meist auf den technischen Aspekt des Fotografierens, die Güte des Equipments und dessen Preise oder auf die abweichende Vorgehensweise beim Fotografieren, z.B. sorgfältigeres Beobachten, Komponieren, Fotografieren. Entschleunigung, Kontemplation. Mich interessieren vor allem die Ergebnisse, und wenn Verfahrens- und Vorgehensweisen sich in ihnen bemerkbar machen, sind sie auch wichtig. Ich fotografiere also mit einer analogen Kamera nicht anders als mit einer vergleichbaren digitalen. Es gibt auch keinen Grund, der Preis des Einzelbildes unterscheidet sich kaum, die Möglichkeiten der Bildkontrolle gar nicht.
Die folgenden Aufnahmen sind Scans vom Negativstreifen, ich habe sie ohne Belichtungsmesser, Autofokus oder nennenswerte Nachbearbeitung mit einer reinen Sucherkamera, also ohne jede Schärfenkontrolle, und mit ein oder zwei Daumenregeln sowie einer Prise Kopfrechnen angefertigt. Das macht natürlich Spass, weil es ziemlich punkig, rauh und schnell geht: Man sieht hin, findet einen Standpunkt, schätzt alle Einstellwerte, nimmt die Einstellungen vor und drückt ab.
Es passiert aber mit der Zeit etwas – und da kommen wir zum Ausgangspunkt, zum trainierten Gehirn, wachen Sinnen und zum Verstand zurück -, was früher normal und selbstverständlich war: Man lernt wieder, Lichtverhältnisse und Entfernungen einzuschätzen, seinen Augen zu trauen. Das ist ganz wunderbar, probiert es mal aus! :-)
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Weniger
Bei der Übertragung des WM-Finals in Rio de Janeiro war übrigens kurz ein groß gewachsener, dunkelhaariger Mann mit Vollbart und ein bisschen Speck auf den Rippen zu sehen, der etwas verlegen lächelnd die Freude der deutschen Mannschaft über den Titelgewinn mit einem erstaunlich kleinen Fotoapparat festzuhalten versucht hat. Der Mann heißt Paul, residiert in Norderstedt und ist mit seiner Leica eine wohltuende Ausnahme zwischen all den Agenturfotografen, die schwer behängt und belastet mit ‘Profikameras’ und Equipment von Canon oder Nikon die Horde von ‘Berichterstattern’ bilden, die uns mit stets den gleichen Fotos vorgaukeln wollen, beispielsweise eine solche Fussballweltmeisterschaft sei eine Veranstaltung von höchster sportlicher Güte. Tatsächlich war sie das natürlich keineswegs, aber diese Tatsache zu kolportieren ist leider nicht sehr verkaufsfördernd und vor allem ein anderes Thema …
Gern gehört:
Jennifer Rostock – Schlaflos
Jennifer Rostock – Ein Schmerz und eine Kehle
Jennifer Rostock – K.B.A.G.